Die Geburt Europas im Mittelalter by Goff Jacques Le
Autor:Goff, Jacques Le [Goff, Jacques Le]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Sachbuch
ISBN: 9783406630934
Herausgeber: Beck, C.H. Verlag
veröffentlicht: 2012-03-07T23:00:00+00:00
Die Buchkultur
Im Anschluss an die Renaissance des 12. Jahrhunderts machte die Buchkultur im 13. Jahrhundert eine entscheidende Entwicklung durch. Ein erster Aufschwung hatte bereits zwischen dem 4. und dem 7. Jahrhundert stattgefunden, als die Buchform des Codex an die Stelle der schwierig zu handhabenden antiken Papyrusrolle getreten war. Mit dem Codex wurde die revolutionäre Erfindung der Seite in die Handschriften eingeführt, die nun umso bequemer zu benutzen waren, als sie – abgesehen von den liturgischen Büchern – oft ein bescheidenes Format besaßen und daher transportabel waren. Die Verbreitung des Codex wurde allerdings durch zwei Umstände gebremst. Der erste, sozio-intellektuelle bestand darin, dass die Zahl derer, die lesen konnten, auf die in Klöstern ausgebildeten Mönche beschränkt war und die Mönche in den klösterlichen Skriptorien über die einzigen Bibliotheken der damaligen Zeit verfügten. Der zweite, nicht weniger restriktive betraf das Material. Das handschriftliche Codex-Buch wurde auf Pergament geschrieben. Für die Herstellung eines einzigen Buches brauchte man sehr viele Häute von Kälbern oder meistens Schafen, was den Preis oft unerschwinglich machte, während der Bedarf an Büchern mit der Zahl der städtischen Schulen und vor allem der Universitäten stieg.
Bei Ivan Illich heißt es, um 1140 sei das monastische Kapitel der Buchkultur zu Ende gegangen und «die Seite der Scholastik» aufgeschlagen worden. Der große Initiator dieser neuen Kunst zu lesen war der berühmte Theologe und Gelehrte der vorstädtischen Abtei St. Victor in Paris, Hugo von St. Victor. Im 13. Jahrhundert bekamen die materiellen und technischen Innovationen, die dem Buch ein neues Gesicht verliehen und seine Benutzung vereinfachten, ihren letzten Schliff. Die Interpunktion wurde verbessert, in die Handschriften wurden Titel und Rubriken eingeführt, die Bücher in Kapitel untergliedert und alphabetisch geordnete Sachregister angelegt. Revolutionärer noch erscheint die Umstellung vom lauten Vorlesen auf die stille individuelle Lektüre, sofern die Lesung nicht für ein Auditorium bestimmt war. Ein Europa des lesenden Individuums war geboren.
Der Gebrauch von Büchern nahm nicht nur durch den Aufschwung der Schulen und der Universitäten zu, sondern auch durch das Aufkommen neuer Berufsverbände wie etwa der Juristen, die der Schrift verpflichtet waren, und durch die fortschreitende Alphabetisierung der Adligen, Kaufleute und Handwerker. Wie Daniel Baloup sagt, wurde das Buch «ein Werkzeug, das sowohl den weltlichen Studien, als auch der Arbeit, der Muße und der privaten Andacht diente». Zugleich mit der Form entwickelten sich die Inhalte, die vielfältiger wurden und dem Geschmack, den Interessen der Leser umso mehr entgegenkamen, als die Bücher sich auch den Volkssprachen öffneten. Die universitären Lehrbücher zeichneten sich durch breite Seitenränder für die Aufzeichnung von Kommentaren aus. Die Buchgewerbe mehrten sich, vor allem im Umkreis der Universitäten. Der Buchhändler tauchte auf. Mehr und mehr Pergamenthersteller, Kopisten und Binder wurden benötigt. Der Engpass des teuren Pergaments wurde nur langsam, mit der allmählichen Einführung des Papiers überwunden, das sich erst im 15. Jahrhundert durchsetzen sollte und zu diesem Zeitpunkt dreizehnmal billiger war als Pergament.
Eine weitere technische Neuheit, die das Buch betrifft, entwickelte sich im 13. Jahrhundert: das System der pecia. Vor der Zeit des Buchdrucks war die Reproduktion der Handschriften naturgemäß ein unerhörtes Problem.
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